Analphabetismus erkennen und Betroffene unterstützen
Analphabetismus ist ein Problem für sehr viele Menschen. Auch in Deutschland, das gerne als reich und gebildet bezeichnet wird, ist die Zahl der Menschen, die nicht lesen und schreiben können, nicht so klein, wie man vermutet. In diesem Gastbeitrag beleuchtet meine Netzwerkkollegin Katrin Zinoun das Problem und erläutert, wie Analphabeten im Rahmen der Gesundheitsversorgung geholfen werden kann.
Lesen und Schreiben werden, neben Rechnen, als grundlegende Zivilisationstechniken bezeichnet. Jeder und jede lernt es in den ersten Jahren der Schule. Dennoch gibt es in Deutschland laut einer Studie aus dem Jahr 2011 7,5 Millionen funktionale Analphabeten. Darunter sind Menschen zu verstehen, die in verschiedenen Graden nicht lesen oder schreiben können. Teilweise können funktionale Analphabeten einzelne Wörter lesen und schreiben, haben aber Probleme schriftlich zu kommunizieren oder den Inhalt längerer Texte zu erfassen. Als funktionale Analphabeten zählen auch Menschen, die relativ gut lesen können, aber Schwierigkeiten beim Schreiben haben und Situationen, in denen geschrieben werden muss, vermeiden.
Es gibt inzwischen Aufklärungs- und Sensibilisierungskampagnen, damit mehr Menschen, die nicht lesen und schreiben können, geholfen werden kann. Immer noch werden sie stigmatisiert. „Lesen und Schreiben kann doch jeder“, so die gängige Meinung. Einen Grundbildungskurs zu besuchen hat immer noch etwas Abwertendes. Die Anstrengung wird nicht anerkannt, sondern das frühere Versäumnis betont.
Der Weg zur Hilfe
Sich selbst einzugestehen, dass man nicht lesen und schreiben kann („Das kann ja schließlich jedes Kind.“) und sich dann noch selbstständig Hilfe zu suchen, ist ein sehr schwieriger Prozess. Es bedarf fast immer eines Anstoßes von außen. Mitarbeiter im Gesundheitsbereich können hier eine Schlüsselfunktion einnehmen. Oftmals haben Hausärztinnen langjährige Beziehungen zu ihren Patienten und Patientinnen aufgebaut. Sie sind Vertrauenspersonen. Eine ältere Dame, deren Mann gestorben ist, öffnet sich eventuell gegenüber ihrer Ärztin mit dem Problem, dass sie nun nicht mehr allein zurecht kommt, weil ihr Mann sich „um alles gekümmert hat“. Die Ärztin oder der Arzt muss hier in Lage sein, den Kern des Problems zu erkennen und angemessen zu reagieren. Sie oder er muss die Symptome von Analphabetismus kennen und die Betroffene darin bestärken, Unterstützung anzunehmen.
Dafür müssen Ärztinnen für das Thema sensibilisiert sein. Sie sollten die Zeichen deuten können. Bei Patienten, die Vermeidungsstrategien anwenden, zum Beispiel nie Formulare ausfüllen, weil sie gerade ihre Brille vergessen haben oder das lieber in Ruhe zuhause machen, oder die nicht auf schriftliche Informationen reagieren, sollte man Analphabetismus zumindest in Erwägung ziehen. Das trifft natürlich nicht nur auf Patientinnen zu. Auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können in der Pflege oder im Gesundheitswesen tätig sein, ohne richtig lesen und schreiben zu können.
Aber wie handelt man, wenn man einen solchen Verdacht hat? Hier können die Koordinierungsstellen für Alphabetisierung weiterhelfen. Es gibt sie in jedem Bundesland und sie bieten oft Fortbildungen zu diesem Thema an. Dort wird dann geklärt, wie man funktionale Analphabeten erkennen kann und wie man ihnen auf sensible Art und Weise helfen kann. Denn Lesen und Schreiben lernen kann man auch noch bis ins hohe Alter. Und die Lebensqualität erhöht sich mit dem Erwerb dieser Fähigkeiten enorm. Das sollte keinem Menschen vorenthalten werden.
Die Autorin
Katrin Zinoun beschäftigt sich als freie Autorin mit einer Vielzahl von Themen rund um Bildung – am liebsten allerdings mit der Pädagogik der Vielfalt, denn die Welt in der sie leben möchte, ist bunt.
Ich kenne Katrin aus dem Netzwerk Texttreff. Wir Texttreff-Mitglieder schenken uns jedes Jahr zum Jahreswechsel Blogbeiträge. Das ist ein sehr schöner Brauch, der zur Vielfalt der Bloglandschaft beiträgt. Und so freue ich mich ganz besonders über diesen interessanten Text, der mir und Ihnen einen Einblick gibt in ein Thema, das mehr Aufmerksamkeit verdient.
Quellennachweis Foto: photocase.de/gig-pic
Liebe Katrin, liebe Silke,
danke für den interessanten Artikel! Das ist ja tatsächlich ein Problem, über das man nicht so leicht stolpert, weil es niemand deutlich vor sich herträgt. Umso wichtiger, immer wieder darauf aufmerksam zu machen.
Im letzten Sommer habe ich dazu auch einen Blogbeitrag veröffentlicht, weil ich zu diesem Thema mal etwas für die Autorenzeitschrift “Federwelt” geschrieben hatte:
http://www.skriving.de/wordpress/2015/07/08/74/
Viele Grüße
Maike
Vielen Dank, liebe Maike, für deinen Hinweis!
Hallo,
toller Artikel! Beschäftige mich auf meiner Seite http://www.lesen-schreiben-lernen.org/ auch mit dem Thema und werde ab jetzt auch öfter hier vorbeischauen!