Hauptstadtkongress 2014: Die Gesundheitsbranche redet nicht nur über Gesundheit
Der Hauptstadtkongress ist ein gesundheitspolitisches Großereignis. Doch nicht nur das. Er ist auch inspirierend, öffnet den Blick auf größere Zusammenhänge und hilft dabei, Einzelmeldungen und Einzelmeinungen einzuordnen. Insofern geht ein Besuch des Kongresses immer auch mit dem Versuch einher, das komplexe Gebilde Gesundheitswesen besser zu verstehen. Komplexizität ist eins der Hauptmerkmale des deutschen Gesundheitswesens, auf dem es inzwischen 2, manche Autoren sagen sogar 3, Gesundheitsmärkte gibt. Jeder Markt für sich ist bereits unüberschaubar, die Märkte verschmelzen noch dazu mehr und mehr. Wer kann in so einer Struktur den Überblick behalten?
Komplexes Gebilde Gesundheitswesen
Die mehr als 8.000 BesucherInnen des Hauptstadtkongresses nehmen sicher einen sehr prägnanten Eindruck vom Gesundheitswesen mit nach Hause. Denn das, was man dort erleben konnte, spiegelt die allgemeine Lage sehr schön: Ein Überangebot an Themen, Meinungen, Akteuren und Veranstaltungen, aber weit und breit niemanden, der einen Leitfaden dafür parat hält. Sich im Wurzelgeflecht von Vorträgen, Diskussionen, Foren, Präsentationen und Workshops zurechtzufinden - machbar, aber schwierig. Nur das Wichtigste mitnehmen – unmöglich. Denn ob und was wichtig ist, hängt vom Kontext und vom Hintergrund jedes Einzelnen ab. Im Zweifel ist eben alles wichtig. Und jedes noch so kleine Detail kann mit einem Aspekt aus einem anderen Bereich zusammenhängen – bezogen auf Fachliches, Ökonomisches, Politisches oder den Sektor.
Deshalb kann ein Bericht über diesen Kongress immer auch nur ein Versuch sein, einen Teilaspekt vorzustellen. Wer das große Ganze darstellen will, verliert sich beim Thema Gesundheitswesen ansonsten schnell in Allgemeinplätzen.
Ich selbst hatte ja einiges vor, wie man in diesem Blogbeitrag nachlesen kann. Und ich bin stolz auf mich, dass ich das alles geschafft habe. Zwischendurch konnte ich sogar nicht geplante, dafür umso interessantere Gespräche führen. Einige Vorträge habe ich im Auftrag von Verlagen besucht, die meine Berichte in unterschiedlichen Fachzeitschriften veröffentlichen werden. Den ersten Kongresstag konnte ich jedoch relativ frei gestalten. So habe ich mich am Mittwoch einerseits auf den ganz großen Blickwinkel gestürzt (Podiumsdiskussion Qualitätsoffensive für das deutsche Gesundheitswesen) und andererseits auf einen ganz speziellen Teilaspekt (Social Media im Krankenhaus). Im Blog des Young Lions Gesundheitsparlaments „Zukunft Gesundheitswesen“ fasst Dr. David Matusiewicz die Diskussionen über das Thema Social Media und Gesundheitsmarkt zusammen. Das hat er so umfassend und anregend getan, das ich mich hier auf einen Link zum Beitrag beschränken möchte. Wer sich für die Folien des Vortrags von Sebastian Baum vom St. Antonius Hospital in Eschweiler zum Thema Social Media im Krankenhaus interessiert, der im verlinkten Blogbeitrag zur Sprache kommt, findet sie hier bei SlideShare.
Deshalb möchte ich mich lieber auf die Diskussion beschränken, die sich um eine Qualitätsoffensive im deutschen Gesundheitswesen drehte. Hochkarätige Referenten besetzten das Podium: Uwe Deh vom AOK-Bundesvorstand, Prof. Dr. Ferdinand Gerlach vom Vorstand des Sachverständigenrats zur Begutachtung und Entwicklung im Gesundheitswesen, Dr. Regina Klakow-Franck, unparteiisches Mitglied im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Dr. Matthias Gruhl, Leiter der Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz in Hamburg und Prof. Dr. Joachim Szecsenyl, Geschäftsführer der AQUA, des Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen. Es moderierte Dr. Rainer Hess, ehemaliger Vorsitzender des G-BA.
Qualität verbessern – Worüber reden wir eigentlich?
Eine Vielzahl von Aspekten kam in der Diskussion zur Sprache, ein abschließendes Fazit gab es leider nicht. Ich möchte einen Tweet, den ich aus der Diskussion heraus gepostet habe, zum Anlass für ein paar Gedanken nehmen.
#hsk14 #Qualität Wir haben kein Problem bei den einzelnen Leistungen, aber ein Mengenproblem. Stichwort: Qualität der Indikationsstellung
— well, (@silkejaeger) 25. Juni 2014
Leider kann ich das Zitat aus der Erinnerung keinem der Menschen auf dem Panel mehr zuordnen. Ich hoffe, Ihr könnt mir dieses Versäumnis nachsehen.
„Wir haben kein Problem mit der Qualität der einzelnen Leistungen.“ Eine Aussage, die all jene beruhigen könnte, die sich aufgrund von Berichterstattung verunsichert fühlen – die PatientInnen – und all jene, die sich durch anders lautende Aussagen in der Vergangenheit kritisiert fühlten – die Menschen, die direkt mit PatientInnen arbeiten. Die Ansicht, dass jede und jeder Einzelne im Gesundheitssystem sein Bestes tut und dass das meistens tatsächlich auch den hohen Anforderungen an medizinische Versorgung genügt, wird also auch von Menschen, die das große Ganze von Berufs wegen im Blick haben müssen, geteilt. Die Aussage: PatientInnen werden in Deutschland gut behandelt, die Qualität der einzelnen Behandlung wird nicht in Frage gestellt.
Kritisiert wurde auf dem Hauptstadtkongress des Öfteren, nicht nur in dieser Diskussion, dass zu viel behandelt würde. „Wir haben ein Mengenproblem.“ Also geht es bei allen Optimierungsversuchen gar nicht in erster Linie darum, die Qualität zu verbessern, sondern die Menge zu reduzieren? Klasse statt Masse. Wer viel behandelt, hat nicht Recht? Wer viel behandelt, macht einen Fehler? Das lässt sich so natürlich nicht sagen. Aber dass ein Mengenproblem gesehen wird, hängt natürlich auch mit dem ökonomischen Blickwinkel auf medizinische Versorgung zusammen, der seit der ersten Gesundheitsreform im Jahr 1993 immer mehr Gewicht bekommen hat.
Wer viel behandelt, verursacht Kosten. Und denen ist man in einem pauschalisierten Abrechnungsverfahren schnell auf der Spur. Deswegen haben es auch die chronisch Kranken in diesem System vergleichsweise schwer. Die chronisch Kranken sind die, die ein Gesundheitssystem am meisten brauchen. Das sind die besonders Abhängigen von teurer Medizin. Mehr Ältere heißt auch mehr chronisch Kranke. Das ist die eine Klammer um das Mengenproblem, die andere ist das durch falsche Anreize selbst geschaffene Problem, dass Behandlungen, die teuer abgerechnet werden können, zunehmen. Erklärungen dafür gibt es einige. Eine davon ist die Vermutung, dass zunehmend Indikationen zugrunde gelegt werden, die nicht unbedingt dem medizinisch belegbaren Symptombild entsprechen.
Das schafft die Überleitung zum 3. Teil des Zitats aus dem Panel: „Stichwort: Qualität der Indikationsstellung“. Es geht also beim Ruf nach mehr Qualität auch darum, die Kriterien zu überprüfen, mit denen die Behandlungsbedürftigkeit festgestellt und kategorisiert wird. Der Subtext dazu heißt: Rechtfertigen die Beschwerden überhaupt eine medizinische Behandlung, die die Solidargemeinschaft zu zahlen hat oder ist das eher ein Fall für primärpräventive Maßnahmen oder geht es vielleicht sogar um Sozialhygiene? Mit anderen Worten: Muss man damit wirklich zum Arzt oder hilft mehr Sport oder ein Gespräch unter Freunden? Das Problem an dieser Sichtweise ist jedoch, dass bei den wirklich teuren Behandlungspositionen diese Frage gar nicht greift. Denn da ist die Indikationsstellung nicht das Problem: Schwere Krankheiten kann man in der Regel eindeutig diagnostizieren. Schwer wird es eher da, wo die Beschwerden diffuser sind. Beispiel: Rücken. Die Beurteilung dessen, was zu tun ist, ist nicht leicht. Man weiß, es wird bei Rückenbeschwerden zu aufwändig diagnostiziert, zu viel operiert und zu wenig auf Eigenverantwortung und konservative Maßnahmen wie Physiotherapie gesetzt. Ein Ansatz, um hier Kosten zu senken, wäre, die Bevölkerung besser zu schulen, damit jede und jeder Einzelne überhaupt mehr Eigenverantwortung übernehmen kann. Das verlagert einen Teil der Kosten in ein anderes System, hilft aber langfristig, medizinische Versorgung bezahlbar zu halten. Insofern wäre die Qualitätsdebatte auch eine, die über das Gesundheitssystem hinaus reicht.
Unter Qualität versteht jeder etwas anderes
Die Frage: Qualität – Was ist das eigentlich und wie lässt sie sich verbessern?, zog sich übrigens wie ein roter Faden durch den gesamten Kongress. Was Qualität eigentlich ausmacht, dazu gibt es jedoch unzählige Haltungen und Definitionen. Qualität ist dennoch das Leitmotiv in der Patientenversorgung der Zukunft. Das legt der Kongress nahe. Auch Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe widmete einen Teil seiner Eröffnungsrede der Qualität und sieht sie als DAS Kriterium – neben dem Preis –, um Gesundheitsversorgung bewerten zu können. Die Frage nach Qualität hänge jetzt nicht mehr eng mit einer Kritik am bestehenden System zusammen, sondern richte den Blick auf das, was den Patienten hilft. Diese Sichtweise von Hermann Gröhe zeigt sehr gut, wo die politische Diskussion zurzeit steht: Es geht darum, sich nicht mehr von ökonomischen Vorgaben einengen zu lassen, sondern die Ökonomie als Hilfsmittel für eine bessere Patientenversorgung zu nutzen. Es geht auch um die Frage, welche Anreize die Qualität fördern. Das ist wohl gemerkt Gegenstand der politischen Diskussion. An der Basis hingegen wird weiterhin darum gerungen, Leistungen, die nötig erscheinen, auch angemessen bezahlt zu bekommen. Das fasste auch an anderer Stelle Thomas Meißner, Mitglied im Präsidium des deutschen Pflegerats, zusammen: „Bei allen Beratungen um bessere Lösungen geht es ab einem gewissen Punkt immer nur noch ums Geld.“
Die nächste Herausforderung heißt also: Erklärt den Ökonomen ihre Grenzen, nutzt ihre Fähigkeiten, Prozesse in Zahlenwerk abzubilden und vertraut darauf, dass eure Bemühungen bessere Ergebnisse bringen, wenn ihr euch ausschließlich am Patienten und seinen Bedürfnissen orientiert und wenn ihr berufs- und sektorenübergreifend zusammenarbeitet. Das heißt aber auch, dass es gut ist zu fragen (Zitat Thomas Meißner): „Wer hat welchen Hut auf?“ und nicht: „Wer hat den Hut auf?“