Ist Storytelling gesundheitsfördernd?
Geschichten sind zurzeit Everybody’s Darling. Gefühlt jeder versucht sich im Storytelling. Was nicht schlimm ist. Wenn es nach mir ginge, dürften pausenlos Geschichten erzählt werden. Ich liebe gute Stories und interessiere mich sehr dafür, wie man sie einsetzen kann. Nicht nur im Marketing, sondern auch in anderen Zusammenhängen, zum Beispiel in der Therapie oder in der Förderung von Gesundheitskompetenzen. Zum heutigen Welttag der Geschichten mache ich mir deshalb ein paar grundsätzliche Gedanken, welche Rolle Geschichten für die Gesundheit spielen können.
Zuerst was Allgemeines über Geschichten und wozu das Gehirn sie braucht
Geschichten werden schon seit Menschengedenken erzählt: zur Unterhaltung, um Gemeinschaft zu erzeugen und zu schützen, um Zusammenhänge deutlich zu machen oder leichter erinnerbar, um Aufmerksamkeit zu erzeugen und um Bilder zu kreieren, an die sich die Hörer*innen und Leser*innen leichter emotional anbinden können. Oder anders ausgedrückt: Mit denen sie etwas anfangen können, die eine Saite in ihnen zum Schwingen bringen, die für sie Bedeutsames fühlbar macht.
Jeder Mensch hat einen Sinn für Geschichten, das heißt, für übergeordnete Muster, in denen sich etwas ereignet. Das Gehirn kann nicht anders, als Erlebtes in einen größeren Zusammenhang einzubinden. Das hat etwas damit zu tun, das es mit der Energie, die ihm zur Verfügung steht, haushalten muss: Hirnnahrung (Zucker & anregende Reize) sind genauso limitiert wie Ressourcen (bestehende Nervenverbindungen). Auch, wenn das Gehirn so angelegt ist, dass es ständig Neues (Relevantes) dazulernt und Altes (Irrelevantes) verwirft – Plastizität also ein wesentliches Merkmal von Gehirnstruktur ist – gehen seine Bestrebungen dahin, diese Fähigkeit zum Umbau nur da einzusetzen, wo es sinnvoll ist. Um Energieverschwendung zu vermeiden.
Sinnvolle Datenpakete
Sinnvoll ist etwas Neues immer dann, wenn es mit etwas Bekanntem verbunden werden kann. Dann ist der Mensch in der Lage, mit den neuen Informationen etwas anzufangen, eine „Lehre“ daraus zu ziehen, sie im Alltag langfristig umzusetzen. Das Gehirn ist also bestrebt, neue Informationen in bestehende Muster zu integrieren, um Synergien zu schaffen.
Dabei kommt es häufig nicht drum herum, fehlende Informationen so zu ergänzen, dass sie an Bekanntem andocken können. Emotionen bauen hier eine Brücke. Denn das, was die gleichen Emotionen erzeugt, wie etwas zuvor Erlebtes, hat entweder direkt oder indirekt etwas damit zu tun. So schlussfolgert das Gehirn und sortiert munter Gleiches zu vermeintlich Gleichem. Damit bei diesem Prozess nicht allzu viele Fehler passieren, speichert es Informationen codiert. Dazu nutzt es unterschiedliche Codes und Methoden, eine davon ist die Narration. Eine sehr effektive Methode: Denn Informationseinheiten in Geschichten zu verpacken ist effiziente Datenverarbeitung.
Das ist der Grund, warum wir Menschen Geschichten lieben: Sie helfen uns, Informationen einzuordnen, weil wir die Gefühlsbrücke benutzen können. Das spart enorm Energie, weil es leichter ist als eine neue Andockstelle zu bauen oder durch den Fluss zu schwimmen.
Es gäbe noch viel mehr zu diesen Mechanismen zu sagen. Das verschiebe ich jetzt aber auf später.
Dann was Allgemeines über Gesundheitskompetenz
Gesundheitskompetenz ist ein schwer zu fassender Begriff. Unter Kompetenz kann man Vieles verstehen. (Gerne erinnere ich mich an Edmund Stoibers Ausspruch von der „Kompetenzkompetenz“. Seitdem kann ich persönlich den Begriff nicht mehr ganz ernst nehmen. ) Wenn es gut läuft, suggeriert jemand, der als kompetent wahrgenommen wird, dass er seine Sache gut versteht und die damit im Zusammenhang stehenden Fähigkeiten auch in neuen, vergleichbaren Situationen anwenden kann. Kompetenz ist also Anwendungswissen. Bei gesundheitskompetenten Menschen (welch Wort!) muss demnach das Anwendungswissen über die eigene Gesundheit gut ausgeprägt sein.
Das Bundesamt für Gesundheit definiert Gesundheitskompetenz als die Fähigkeit des Einzelnen im täglichen Leben Entscheidungen zu treffen, die sich positiv auf die Gesundheit auswirken. Im Bericht „Gesundheit 2020“ erklärt der Bundesrat die Stärkung der Gesundheitskompetenz und der Selbstverantwortung zu einem wichtigen Ziel: Damit sich die Menschen effizienter im Gesundheitswesen bewegen können, Krankheiten vorbeugen und sorgsamer mit ihrer Gesundheit umgehen können. (Download des Berichts klappt unter oben genanntem Link.) War die Gesundheitskompetenz des Einzelnen also schon immer irgendwie wichtig, so wird sie demnächst immer noch wichtiger. Auf internationaler Ebene wird das schon länger unter dem Begriff Health Literacy diskutiert.
Nun ist Gesundheit ein ähnlich weites Feld wie Storytelling und sogar noch beliebter. Denn wem Gesundheit abhanden gekommen ist, dem fehlt eine wichtige Voraussetzung, um seine Energiereserven so einsetzen zu können, das der Alltag leicht gelingt. Da helfen auch die schönsten Geschichten nicht unbedingt weiter. – Oder vielleicht doch?
Erfahrungen transportieren
Erfahrungen von anderen in einer ähnlichen Situation sind wertvolle Hilfen. Nicht nur, weil gemeinsam Erlebtes Gemeinschaft hervorruft, sondern auch, weil sich daraus natürlich Handlungsempfehlungen ableiten lassen. Ein anderer hat schon die Phase von Versuch und Irrtum hinter sich und ich selbst kann mir so den Irrtum sparen. So die Hoffnung vieler, die beispielsweise gerne Erfahrungsberichte, Tipps oder Ratgeber lesen. Daraus leitet sich auch deren Beliebtheit ab. Ohne diese Methoden abwerten zu wollen, stelle ich mir aber die Frage, inwiefern nicht selbst erfahrenes Wissen überhaupt hilfreich sein kann? Dazu fällt mir auch ein Sprichwort aus Litauen ein:
„Ein einziges Blättchen Erfahrung ist mehr wert als ein ganzer Baum voll guter Ratschläge.“
Bäume voller Ratschläge kommen als ellenlange Listen und Vorschriften daher, ohne Anbindung an die Lebenswirklichkeit desjenigen, dem sie weiterhelfen sollen. Deshalb funktionieren meiner Erfahrung nach solche Konzepte – wenn überhaupt – nur kurzfristig. Anders als in Selbsthilfegruppen, in denen man durch die Geschichten von anderen Brücken bauen kann zu selbst Erlebtem und da die Abkürzung „ich lass den Irrtum weg“ noch am ehesten funktioniert.
Das Geheimnis liegt also nicht im Zugang zur Information selbst, sondern in der Form, in der die Information angeboten wird. Gemäß dem Hirnprinzip „Relevante Geschichten speichere ich am liebsten!“ hängt es nicht nur vom Inhalt der Geschichte ab, sondern auch vom Kontext, in dem die Geschichte erzählt wird.
Wer Geschichten erzählen will, die Gesundheitskompetenz fördern, kommt nicht drum herum, sich vieleviele Gedanken zu machen: Über den Kern der Geschichte (die Botschaft) und über die Lebenswirklichkeit der Empfänger (die Zielgruppe). Darüber, in welcher Form die Geschichte funktionieren kann (die Variation). Darüber, in welcher Situation sie am ehesten relevant ist (der Kontext) und aus welcher Perspektive die Geschichte am besten erzählt werden kann (der Fokus).
Ein Beispiel zum Schluss: Social Stories
Social Stories sind Lerngeschichten, die für Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen entwickelt wurden, sie werden aber inzwischen in allen möglichen Zusammenhängen und für unterschiedliche Klient*innen eingesetzt, auch bei Erwachsenen. Sie können den Klient*innen helfen, mit belastenden oder für sie schwierigen Alltagssituationen besser zurecht zu kommen. Die Geschichten transportieren relevante Konzepte (und sozial erwünschtes Verhalten, zum Beispiel bei Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten), die anhand von Erzählungen über alltägliche Begebenheiten verdeutlicht werden. Diese Geschichten können auch im Rahmen von Therapien eingesetzt werden.
Ihre herausstechendsten Merkmale: Sie sind kurz und positiv formuliert. Es tauchen keine Vorschriften und Verbote auf, ihr Stil ist respektvoll.
Die Entwicklern des Formats, Carol Gray, hat zum Prinzip der Social Story ein Infovideo gemacht.
Der Geschichtenwelttag feiert auch die Geschichten, die sich strategisch einsetzen lassen: im Marketing genauso wie in der Förderung von Gesundheitskompetenzen. Gute Nachrichten für passionierte Geschichtenerzähler*innen. Und für alle anderen auch. Hoffentlich.
Mehr Informationen zum Welttag der Geschichten, der immer am 20. März stattfindet, gibt es hier: www.weltgeschichtentag.de
Bildnachweis: Silke Jäger