Kann man nicht mal ein Gegen-Narrativ zu dem der alternativen Heilmethoden entwickeln?
Anlass zu dieser Frage gab ein Gespräch zwischen Iris Hinneburg, Pascal Nohl-Deryk, Philip Schunke und mir, das für den Podcast Gesundheit Macht Politik (GMP) aufgezeichnet wurde. Philip und Pascal sind die GMP-Podcast-Hosts und hatten Iris und mich als Macherinnen des Podcasts Evidenz-Geschichte(n) eingeladen, um über die politische Dimension von evidenzbasierter Medizin und Storytelling zu reden. Danke dafür, übrigens! Gab es am Anfang leichte Skepsis, ob es die politische Dimension bei unseren Themen überhaupt gibt, zeigte sich sehr schnell: Ja, das ist alles hochpolitisch. Hier nachzuhören.
Im GMP-Podcast #14 sagt Philip ab Minute 34:
Ich muss zugeben, dass ich viele Gespräche in dem Kontext Homöopathie, Akupunktur etc. versuche zu vermeiden im Alltag. Damit ändere ich da draußen natürlich niemanden und gar nichts. Jetzt fände ich es ganz spannend, wenn man sowas wie klassische Antworten entwickeln könnte, Stichwort Ministorys. Sowas wie ein Elevator Pitch. Sowas wie eine kurze, sowohl respekt- wie auch wirkungsvolle Antwort.
Und Iris ergänzt:
Dass man so eine Art Gegen-Narrativ entwickelt ...
Soweit also „der kleine Auftrag“, wie Philip das nannte, an Iris und mich. Im Eifer des Gesprächs kam die Antwort auf diese Frage nur in Ansätzen. Im GMP-Podcast #14 ging es zunächst erst einmal mit dem Aspekt weiter, dass in Gesprächen zwischen mit Homöopathiefans die Betonung der Fakten meist nicht weiterhilft. Oft sorgt das sogar noch für eine Verhärtung der Fronten. Philips "Auftrag" ist also offen geblieben und hat mich nicht losgelassen. Deshalb dieser Text.
Das Narrativ der Homöopathie
Homöopathiefans gestalten Gespräche häufig stärker als ihre Counterparts, die Wissenschaftsfans. Das gelingt ihnen dadurch, dass sie von Fakten oft unbeeindruckt sind und stattdessen Werte und Gefühle betonen. Schließlich geht es um Gesundheit und nicht um die Frage, welche Farbe das neue Sofa haben soll. Das Themenfeld Gesundheit ist von Haus aus mit vielen Emotionen verknüpft und oft sind die Tipps, wie man Gesundheit am besten erhalten kann, von Werten geprägt, wie Aufmerksamkeit für den eigenen Körper, bewusste Ernährung, schonende Bewegung oder Reinheit. Häufige Stichworte dazu sind: Entgiftung, basische Nahrung, Wellness. (Rund um diese Werte hat sich übrigens ein eigener Markt gebildet, der sogenannte 2. Gesundheitsmarkt.)
Zurück zur Homöopathie, um deren Narrativ es hier ja geht. Homöopathiefans kennen eine Menge Erfolgsgeschichten und nutzen sie meistens als (Pseudo-)Beleg dafür, dass ihre Überzeugung richtig ist – vielleicht deshalb, weil es wenige Fakten gibt, die man für einen Wirksamkeitsbeleg heranziehen kann. Da war der Gang zum Heilpraktiker manchmal das, was geholfen, als sonst nichts half. Da gab es schlagartige Verbesserungen des Zustands bei progressiven Krankheitsverläufen. Und so weiter. Wir alle kennen diese Geschichten. Es sind entweder selbsterlebte Ereignisse oder solche, die innerhalb der Szene weitergereicht werden. Diese Anekdoten gehören zum Narrativ der Homöopathie.
Das Narrativ ist eine sinnstiftende Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird. Es transportiert Werte und Emotionen.
Quelle: Wikipedia.
Die Rolle von semantischen Frames
Die Wörter, um die dieses Narrativ herumgebaut sind, vermitteln, dass die Homöopathie nebenwirkungsfrei, sicher, natürlich und sanft sei. Dazu kommt, dass Heilpraktiker oder homöopathisch tätige Ärzte ihre Methoden als ganzheitlich bezeichnen und betonen, dass sie nicht das Symptom behandelten, sondern die Ursache. Das Narrativ bedient damit den Mythos einer „alternativen Heilmethode ohne Risiko“. Die Begriffe dieses Wortfelds sind sogenannte semantische Frames. Wikipedia sagt:
Frames sind demnach Wissensrahmen, die sich auf der Grundlage von Erfahrungen gebildet haben. Frames haben innerhalb des Verstehensprozesses die Funktion, verstehensrelevantes Wissen einzuspeisen und zu organisieren. Ein Frame ist somit eine mentale Repräsentation einer stereotypischen Situation, die von Sprechern aus der wiederholten Erfahrung mit realen Situationen abstrahiert wird und deren einzelne Elemente nur in Beziehung zueinander definiert werden können.
Homöopathiefans können also mit ganz wenigen Wörtern einen bunten Strauß an Aussagen treffen, die vom Gegenüber sofort verstanden, mit eigenen oder gehörten Erfahrungen unterfüttert und auf zukünftige Situationen übertragen werden können.
Die Kraft der Geschichten und die Gefahr der Manipulation
Das heißt, schon die Begriffswelten sind mit Werten und Emotionen aufgeladen, passen ins eigene Weltbild und bestätigen es. Fakten können dieses Narrativ nicht angreifen, sie werden kurzerhand umgedeutet. Denn alles, was nicht in das Narrativ integrierbar ist, steht der Wertewelt gegenüber. Die Geschichten, die dieses Narrativ unterfüttern, haben eher manipulativen als wissensvermittelnden Charakter.
Iris Hinneburg und ich erzählen in unserem Podcast Evidenz-Geschichte(n) ebenfalls Storys. Unsere Geschichten nehmen wir aus der Historie und nutzen sie, um Wissen rund um die Methoden der evidenzbasierten Medizin zu vermitteln: Welche Methode wurde wann begründet? Von wem? Unter welchen Umständen? Und was ist davon heute noch wichtig? Unsere Storys drehen sich rund um diese Kernfragen. Wir hoffen, damit ein Positivbeispiel für Storytelling als Mittel zur Wissensvermittlung geben zu können.
Die Frames, die in unseren Geschichten vorkommen, gehören zum Narrativ des beharrlich Forschenden, der auf der Suche nach der Wahrheit gegen äußere Widerstände ankämpft und am Ende Erfolg hat. Dank seines Verstandes, seines Mutes und seines Durchhaltevermögens.
Was sind Gegen-Narrative?
Iris und ich haben nicht den Anspruch, mit unseren Geschichten ein Gegen-Narrativ zum Homöopathie-Narrativ zu entwerfen, nach dem Philip ja im GMP-Podcast #14 fragte. Wir nutzen die Kraft der Geschichten, um Fakten zu transportieren und diese Fakten unterhaltsam und anschaulich zu gestalten. Schön, wenn unsere HörerInnen mit den Protagonisten (es sind bisher nur Männer, der Geschichtsschreibung geschuldet) mitfiebern und darauf gespannt sind, zu erfahren, warum ihre Arbeit bis heute wichtig ist.
Ich habe Philips Frage aber zum Anlass genommen, mal nachzuschauen, was ein Gegen-Narrativ kann. Dabei bin ich auf einige Beiträge gestoßen, die sich das im Zusammenhang mit Neo-Nazitum und Radikalisierung anschauen. Zur Homöopathie scheint es da noch nichts zu geben. Das heißt nicht, dass ich Homöopathie mit Islamismus oder der Nazi-Weltanschauung gleichsetzen möchte. Die Parallele liegt hier im Stichwort „geschlossenes Weltbild“.
In diesem langen Beitrag der Bundeszentrale für politische Bildung finden sich zum Gegen-Narrativ folgende Sätze:
Das Problem liegt (...) in der Natur des Gegen-Narrativs. Es kann nur wirken, wenn es aus der gleichen kulturellen Herkunft kommt wie das Narrativ selbst. (...) Und wo die Gegen-Narrative nicht greifen, da kann man zunächst einmal auch keine Gegenargumente liefern, und seien diese auch noch so richtig, so durchdacht und so zutreffend. Sie werden am Extremisten und seinem Narrativ scheitern.
Die Theorie zu semantischen Frames sagt auch, dass Verneinungen nicht funktionieren, weil man in dem Moment, in dem man den Frame benutzt, um ihn zu wiederlegen, ihn automatisch verstärkt. Im sprachverarbeitenden Teil unseres Gehirns werden sowohl bei Bestätigung als auch bei Verneinung die gleichen Areale aktiviert. Unser Gehirn kann „Nicht“ nicht verarbeiten, ohne den entsprechenden Kontext aufzurufen. Das schwächt Argumente, die als Gegensatz oder Widerrede konstruiert werden.
Können Gegen-Narrative überhaupt funktionieren?
Es gibt ja im Netz einige Initiativen, die versuchen, über die Fehlschlüsse im Zusammenhang mit Homöopathie aufzuklären. Sie benutzen häufig Schlagworte wie Globukalypse oder Unheilpraktiker, um ihre Initiativen bekannter zu machen, zum Beispiel bei Twitter in Form von Hashtags. Diese Initiativen haben das Problem, dass sie Schlüsselbegriffe der Gegenseite oder Teile von diesen verbreiten und damit unbeabsichtigt den Kontext aktivieren, den das Homöopathie-Narrativ geschaffen hat: natürlich, sanft und ohne Nebenwirkungen. Das führt beim Lesen der Gegenargumente zu Assoziationen wie unnatürlich (chemisch), unsanft (Keule), mit Nebenwirkungen (schädlich). Damit wird das Narrativ der Homöopathie gestärkt und die Argumente der Homöopathie-Kritiker dringen nicht durch bzw. haben es einfach schwerer. Günstiger ist es, wenn man statt Gegenzuarbeiten ein Dafürsein pflegt – in diesem Fall für die Medizin. Und dies dann mit Argumenten und Geschichten unterfüttert.
Das Problem mit dem Gegen-Narrativ ist also, dass es als solches nicht wirklich funktioniert. Der Kontext, gegen den es eingesetzt wird, wird dadurch sogar eher gestärkt. Narrative sind als eigenständige Erzählungen wesentlich kraftvoller, also dann, wenn sie nicht in Verbindung mit dem Zweck jemanden von einer Ansicht abzubringen, ihn auf die andere Seite zu ziehen oder ihn argumentativ zu übertreffen, eingesetzt werden. Gespräche mit Homöopathiefans können, wenn sie einen gewissen Grad an Emotionalität oder auch Radikalität erreicht haben, keine guten Gespräche mehr sein. Mindestens einer der Gesprächspartner kommt unter diesen Voraussetzungen nämlich irgendwann an den Punkt, keine Lust mehr darauf zu haben, ähnlich wie es Philip ergeht.
Mein eigener Anspruch an solche Gespräche ist eher niedrig. Ich möchte eigentlich nur, dass mir mein Gesprächspartner zuhört. Das bedeutet natürlich auch, dass ich ihm zuhören muss und mich bis zu einem gewissen Grad anstrengen muss, ihn zu verstehen. Zugute kommt mir dabei vielleicht, dass ich selbst Erfahrungen mit Homöopathie gemacht habe (durchaus die typischen, Iris hat das dahinterliegende Phänomen im Podcast mit einer Geschichte von einer grünen Ampel abgearbeitet, ab Minute 22). Meine Offenheit für diese Experimente begründete sich auf eine schwerere Erkrankung in der Familie – und endete im Verlauf der Behandlung auch schnell wieder. Ich weiß seitdem, was Verzweiflung anrichten kann. Aus dieser Krise entwickelte sich dann aber glücklicherweise die Freundschaft zur evidenzbasierten Medizin.
Mein Beispiel zeigt auch: Der Umgang mit Krisen – eigene oder bei anderen – spielt bei der Popularität von Pseudowissenschaften eine erhebliche Rolle. Menschen, die einem auch noch den letzten Strohhalm wegnehmen wollen, haben’s da einfach schwer. Das sollte man bedenken, wenn man andere überzeugen möchte.
Ein Narrativ für die Medizin
Spannend ist in dem Zusammenhang, wie man diejenigen erreicht, die keine feste Meinung haben, die sich aber vom Homöopathie-Narrativ angezogen fühlen. Auf der Suche nach einem Narrativ, das für die Medizin funktioniert, also einer „sinnstiftenden Erzählung, die Einfluss hat auf die Art, wie die Umwelt wahrgenommen wird“, sollte man einerseits die Stärken der evidenzbasierten Medizin und der partizipativen Entscheidungsfindung (Shared Decision Making, SDM) nach vorne bringen – und zwar so, dass sie für sich als Wert alleine stehen, nicht in Abgrenzung zum Narrativ der Homöopathiefans. Das könnte zum Beispiel mit Begriffen gelingen wie wissenschaftlich geprüft, vertrauenswürdig, sicher für Patienten, patientenorientiert, gemeinsame Entscheidung. Andererseits kann man nach Anknüpfungspunkten suchen, die sowohl im Homöopathie-Narrativ einen hohen Wert haben als auch in der Medizin. Im Bereich der partizipativen Entscheidungsfindung kommt man da sehr schnell auf das Gespräch als Teil der vertrauensvollen Arzt/Therapeut-Patienten-Beziehung.
So ein Narrativ lässt sich aber nicht am grünen Tisch konstruieren. Es muss sich mit den Erfahrungen der Patienten decken. Die Frage, ob das in nennenswertem Maß gelingt, entscheidet darüber, ob das Narrativ durchdringen wird. Es könnte helfen, Kommunikation als Schlüsselelement der Medizin zu etablieren, operationalisierte Prozesse zu schaffen, in denen gute Kommunikationstechniken eine zentrale Rolle spielen (welche das sein könnten, habe ich in einem Beitrag für das Online-Magazin Perspective Daily schon einmal aufgeschrieben) und natürlich das ärztliche/therapeutische Gespräch entsprechend zu vergüten. Das wird nicht leicht bei unserem zergliederten Gesundheitssystem. Die Ansätze dazu sind aber schon auf den Weg gebracht mit dem Nationalen Aktionsplan Gesundheitskompetenz und dem Masterplan Medizinstudium 2020. Trotzdem: Es liegt wie immer auch am Einzelnen.
Nicht zuletzt können zufriedene Patienten auch ermuntert werden, von ihren positiven Erfahrungen zu berichten, ihre Erlebnisse in Geschichten zu packen, das Narrativ mitzugestalten. Ich glaube nämlich nicht, dass es ohne die Mithilfe der Patienten gelingt, ein starkes Narrativ für die Medizin zu schaffen. Und hier liegt eigentlich auch der Punkt, den das Gesundheitssystem für sich nutzen kann in der Homöopathie-Debatte: Schauen, was machen die Homöopathen gut, das die Medizin noch besser machen kann? Weil ihre Möglichkeiten wissenschaftlich begründbar sind. Da sind wir wieder bei der evidenzbasierten Medizin.
Große Liebe zum guten Gespräch und der partizipativen Entscheidungsfindung
Im GMP-Podcast #14 sind wir natürlich auch auf das Gespräch gekommen. Und darauf, dass das Gespräch und zielführende Kommunikationstechniken schon in der Medizinausbildung im Großen und Ganzen zu kurz kommen. Das spiegelt sich auch in der Vergütungsstruktur der Krankenkassen. Iris und Pascal haben außerdem einige interessante Gedanken zu der Frage diskutiert, ob Anekdoten ein geeignetes Mittel für Gespräche mit Patienten im Rahmen von Shared Decision Making sind (ab Minute 45 im Podcast).
Der Aspekt, dass Anekdoten helfen können, Präferenzen der Patienten herauszuarbeiten ist da ein ganz wichtiger. Weil so Ärzte auch als Menschen kommunizieren und nicht nur in ihrer Rolle als Wissensvermittler, Berater und Heilkundige. Der Hinweis darauf, wie die Evidenz zu unterschiedlichen Therapiemaßnahmen aussieht, gehört in diesen Gesprächen dazu. Damit Ärzte/Therapeuten und Patienten gemeinsam entscheiden können, welche der Varianten jeweils für den Patienten oder die Patientin am besten funktioniert.
Quellennachweis Foto: complize / photocase.de